Ohne Chemie: Kein Leben und keine Zukunft

Das Jahr 2011 wurde von der UN zum Jahr der Chemie ausgerufen. Wir haben zu diesem Thema mit unserem vielfachen WAS IST WAS Autor Dr. Rainer Köthe gesprochen. Er erklärt, warum ohne Chemie gar kein Leben möglich ist und welche Überraschungen diese Wissenschaftsdisziplin in der Zukunft für uns bereit hält.

2011 wurde zum UN-Jahr der Chemie ausgerufen. Herr Köthe, was fasziniert Sie persönlich an dieser naturwissenschaftlichen Disziplin?


Die Vielfalt der Stoffe und die Wirkung von Stoffumsetzungen. Einfaches Beispiel: Kochsalz, Natriumchlorid, kann man aus dem Metall Natrium und dem giftigen Gas Chlor herstellen, dennoch hat es keine dieser Eigenschaften. Ganz ähnlich ist es bei praktisch allen chemischen Umsetzungen.

Und gleichermaßen erstaunlich ist es, daß unsere Welt eine durchaus überschaubare Zahl von Atomsorten, also chemischen Elementen enthält, die selbst schon höchst unterschiedliche und zum Teil faszinierende Eigenschaften haben, und daß daraus die unglaubliche Fülle von Stoffen gebildet ist, aus denen unsere Welt besteht von den Himmelskörpern bis zu den Lebewesen.

Dazu zählen natürlich auch die zahlreichen künstlich hergestellten chemischen Produkte. Ich habe mich schon während meiner Schulzeit, als ich zuhause experimentierte, über neu hergestellte Stoffe gefreut neue Farben, Gerüche, Eigenschaften wie etwa Kristallbau. Und diese Faszination hat mich auch während meines Chemiestudiums nicht verlassen. Und ich spüre sie noch heute, wenn ich etwa für einen neuen Experimentierkasten Stoffe herstelle und auf ihre Kristallisationsfreude prüfe.

Welchen Stellenwert nimmt die Chemie unter den Naturwissenschaften ein? In vielen Schulen hat die Physik, was die Anzahl der unterrichteten Stunden betrifft, Vorrang. Ist das gerechtfertigt?


Alle Naturwissenschaften wachsen zunehmend zusammen, und gerade die Kontaktstellen etwa Biochemie, Biophysik sind unglaublich interessant. Insofern hat die Trennung der Schulfächer immer etwas Künstliches. Wichtig sind alle diese Fächer, zumal sie in der heutigen Zeit unser Leben immer stärker bestimmen. Zudem herrscht in vielen Köpfen hier viel Unkenntnis, etwa über Kernreaktionen, die Rolle der Chemie, oder auch die Gentechnik. Nur deshalb können bestimmte Organisationen so viel Unsinn über diese Themen verbreiten und mit Angstmache arbeiten. Hier hat die Schule eine wichtige Aufklärungspflicht.


Viele Laien können mit Chemie gar nichts anfangen. Welche modernen Errungenschaften haben wir ihr bis heute zu verdanken?

Schon in Ihrer Frage klingt ein bemerkenswertes Vorurteil an. Chemie ist nicht nur das, was die chemische Industrie herstellt Chemie sind wir alle. In allen Lebewesen finden ständig chemische Umsetzungen statt, anders können wir uns Leben gar nicht vorstellen. Insofern ist Chemie nichts Künstliches, sondern die Grundlage des Lebens.

Aber auch die Produkte der chemischen Industrie sind für unser modernes Leben unverzichtbar, auch wenn viele Menschen darüber nicht nachdenken. Würde ein böser Geist über Nacht alles entfernen, was mithilfe künstlicher chemischer Umsetzungen hergestellt wurde, wäre unser Leben plötzlich sehr leer und arm es gäbe weder Stahl, Aluminium, Kupfer oder Silizium, wir hätten keine Kunststoffe, moderne Arzneimittel, Waschmittel, Farbstoffe, elektronische Geräte, Autos, Schiffe, Brücken, ja nicht einmal Häuser. Und der größte Teil der Menschheit würde verhungern, weil ohne künstliche Düngemittel die Ernteerträge zusammenbrächen.

Welcher Nobelpreisträger im Bereich Chemie hat die Auszeichnung Ihrer Meinung nach bis heute am meisten verdient?


Eine schwierige Frage, denn Wichtiges haben sie alle geleistet, sonst hätten sie ja den Preis nicht bekommen. Mein freilich subjektiver Vorschlag wäre Kary Mullis, dem er 1993 für die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion zugesprochen bekam. Diese Methode erwies sich als wichtige Grundlage für eine Unzahl biochemischer Forschungen, von der Entschlüsselung des Erbguts vieler Arten bis hin zum genetischen Fingerabdruck in der Verbrechensbekämpfung, und diese Forschungen werden vermutlich im 21. Jahrhundert immer wichtiger. Sie werden unser Leben und nicht zuletzt die Medizin immer stärker prägen.


Inwiefern ist Chemie wichtig für unsere Zukunft? Was kann sie z.B.  in Sachen Umweltschutz und Nachhaltigkeit leisten?


So wie die Chemie bzw. die Produkte künstlicher chemischer Umsetzungen die Gegenwart prägen, werden sie dies auch in der Zukunft tun. Praktisch alle modernen Alltagsgegenstände vom Auto bis zum Flachbildfernseher, vom Computer bis zum Küchengerät sind auf hochentwickelte chemische Produkte angewiesen. Auch Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind ohne chemische Forschungen nicht machbar.

Wenn ich zum Beispiel geringe Mengen wertvoller Stoffe aus Müll zurückgewinnen möchte, brauche ich chemische Methoden dazu. Und ebenso ist die umweltschonende Herstellung von Rohstoffen oder der gezielte Abbau von unerwünschten Stoffen etwa im Abwasser zum Teil auch nach dem Vorbild natürlicher chemischer Abläufe nur möglich, wenn man diese Abläufe versteht und umsetzt oder neue chemische Herstellungsverfahren entwickelt, die von vornherein weniger Abfallprodukte erzeugen.

Im Übrigen ist es eine über 200 Jahre alte chemische Tradition, Abfallstoffe durch Forschung zu wertvollen Rohstoffen für neue Produkte zu machen. Ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert: Das bei der Leuchtgasgewinnung in riesigen Mengen anfallende giftige und zunächst unbrauchbare Abfallprodukt Steinkohlenteer wurde aufgrund der Forschung von Chemikern zur Grundlage der Teerchemie mit Farben und Arzneimitteln und damit zur Keimzelle von Firmen wie BASF, Hoechst und Bayer.

Herr Köthe, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Nic - 17.2.2011 / Foto: Dr. Rainer Köthe privat, Buchcover: Tessloff Verlag

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