Zwei Hälften, ein Gehirn

Vor 95 Jahren, am 20.8.1913, wurde der amerikanische Gehirnforscher Roger Wolcott Sperry geboren. Er untersuchte Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften zu heilenden Zwecken durchtrennt worden war. Für seine Arbeit erhielt er 1981 den Nobelpreis in Medizin.

Roger Wolcott Sperry wurde am 20. August 1913 in Hartford, Connecticut geboren. Sein Vater starb, als er elf Jahre alt war. Seine schulischen Leistungen waren so gut, dass er ein Stipendium für das Oberlin College bekam. 1935 machte er einen Abschluss in Englisch, 1937 in Psychologie und 1941 schließlich erhielt er seinen Doktorgrad in Zoologie von der Universität Chicago.


Zunächst arbeitete er am Yerkes Primatenlabor, das damals zur Harvarduniversität gehörte. Dann arbeitete er an der Universität Chicago und wurde schließlich Abteilungsleiter für neurologische Erkrankungen und Blindheit des amerikanischen Gesundheitsinstitutes (NIH, National Institute of Health, etwa dem Bundesgesundheitsministerium vergleichbar. Seine Aufsehen erregende Forschung trieb er am California Institute of Technology (CalTech).


Gemeinsam mit dem damaligen Studenten Michael Gazzaniga interessierte sich Sperry besonders für die Entwicklung des Gehirns und die Aufgabenverteilung darin. Denn im Gehirn gibt es spezielle Zentren für bestimmte Aufgaben. So wird das, was du siehst, im Hinterkopf verarbeitet. Sprache hingegen wird im Allgemeinen hauptsächlich in den Broca- und Wernickeregion genannten Bereichen auf der linken Seite verarbeitet.


Schere im Kopf Buchstäblich ...


Sperry untersuchte zehn besondere Patienten: Sie alle litten unter einer schweren Form von Epilepsie. Das ist eine Krankheit des Gehirns, bei der von Zeit zu Zeit starke Krämpfe am ganzen Körper auftreten, verbunden mit Bewusstseinsstörungen. Die Ursache der Krämpfe liegt im Gehirn. Um die Krankheit in den Griff zu bekommen, ließen sich die Patienten das Verbindungsstück zwischen den beiden Hirnhälften durchtrennen, im Bild rot umrandet.


Hirnhälften? Gehirnkrampf? Immer schön der Reihe nach: Dein Gehirn besteht aus einem komplexen Netzwerk von Nervenzellen, so genannten Neuronen. Jede einzelne Zelle hat dabei Kontakt zu mehreren tausend anderen Zellen. In diesem Netzwerk gibt es bestimmte Bereiche, die sich auf die Verarbeitung bestimmter Daten spezialisiert haben, wie schon oben geschildert. Dieses Netzwerk in deinem Kopf verarbeitet Sinnesreize und konstruiert das Abbild der Welt. Auch werden hier die Steuerungsbefehle für die Muskeln ausgegeben, etwa wenn du deinen Arm heben willst. Im Bild sind verschiedene Arten von Neuronen dargestellt, gezeichnet von einem frühen Hirnforscher, Ramon Y Cajal.

Das geteilte Gehirn


Dieses neuronale Netzwerk ist in zwei große Bereiche aufgeteilt, die Hirnhälften. Dabei ist die linke Hirnhälfte für die rechte Körperseite verantwortlich und umgekehrt. Augeninformationen aus der jeweils rechten Hälfte des Sehfeldes gelangen in die linke Hirnhälfte und Objekte aus der je linken Hälfte beider Augen werden in der rechten Hirnhälfte verarbeitet. Die beiden Gehirnhälften sind über einen dicken Nervenstrang verbunden, über den Daten ausgetauscht werden.

Wenn du das Bild betrachtest, fällt dir eine vermeintliche Ungereimtheit auf: Der gelb eingezeichnete Nervenstrang empfängt die Daten von der rechten Netzhautseite und führt sie in die rechte Hirnhälfte. Das scheint dem eben Gesagten zu widersprechen. Doch vergiss nicht, dass das Bild auf der Netzhaut seitenverkehrt und auf dem Kopf abgebildet wird! Auf der rechten Netzhautseite werden also Objekte zur Linken abgebildet.

Bei besonders schweren Fällen von Epilepsie wird das gesamte Gehirn von einem wahren Gewitter elektrischer Entladungen überflutet. Um die Ausbreitung einzugrenzen, kam man auf die Idee, den Nervenstrang zu durchtrennen, der die beiden Hirnhälften miteinander verbindet. Sperry untersuchte nun diese Patienten nach den erfolgreichen so genannten Split-Brain-Operationen (Hirnteilungsoperationen) und stellte erstaunliches fest: Jede Gehirnhälfte scheint ihr eigenes Bewusstsein zu besitzen.


Kreuzung im Kopf


Spery und sein Mitarbeiter Michael Gazzaniga stellten folgendes Experiment mit den Patienten an: Die Patienten mussten einen Punkt auf einem Bildschirm anschauen. Dann wurden links und rechts davon Bilder projiziert. Bilder, die rechts vom Punkt zu sehen waren, wurden in der linken Hirnhälfte verarbeitet. Dort liegt auch das Sprachzentrum und die Patienten konnten den gezeigten Gegenstand benennen.


Wurden Bilder links des Punktes projiziert, dann gelangten die optischen Eindrücke in die rechte Hirnhälfte. Dort sind keine wesentlichen Sprachzentren angesiedelt. Die Patienten sagten dann auch nichts über das gezeigte Bild. Aber sie konnten auf einen ähnlichen wie den gezeigten Gegenstand deuten! Das heißt, die rechte Hirnhälfte sah durchaus das gezeigte Objekt, konnte sich aber nicht sprachlich äußern, sondern nur durch Gesten. Sperry und sein Mitarbeiter wiesen diesen Effekt auch für das Hören sowie den Tast- und Geruchssinn nach.


Das Ich und sein Gehirn


Die je gegenseitige Verarbeitung trifft für alle Nerven zu, auch den Gesichtsnerv, wie hier gezeigt.

Auch zeigte sich, dass die Oberarmmuskulatur von beiden Hirnhälften gesteuert werden kann, die feinen Bewegungen der Hand werden aber jeweils nur von der gegenseitigen Hirnhälfe kontrolliert: Rechte Hirnhälfte Linke Hand, Linke Hirnhälfte, Rechte Hand. Sperry sagte 1974, dass jede Hirnhälfte tatsächlich ein bewusstes System ist, wahrnehmend, denkend, erinnernd, begründend, wollend und fühlend, alles auf typisch menschliche Art (...).


Sperry und sein Mitarbeiter erkannten schließlich, dass jede Hirnhälfte ihre besonderen Schwerpunkte hat: Links ist hauptsächlich für Sprachverstehen und Sprechen wichtig, Rechts für Wahrnehmung und Bewegung. Für diese Untersuchungen erhielt Sperry 1981 den Nobelpreis der Medizin. Die Durchtrennung der Verbindung der Hirnhälften zu heilenden Zwecken wird heute so gut wie nicht mehr angewendet.


Patienten, deren Balken durchtrennt wurde, merkt man es in normaler Umgebung nicht an. Manchmal erfinden sie allerdings Geschichten, warum sie bestimmte Dinge getan haben, weil sie nicht vollständig mit beiden Hirnhälften auf das Sprachzentrum zugreifen können. Sie versuchen dann dennoch mit erfundenen Geschichten ihr Verhalten zu begründen. Das ist kein Lügen, sondern diese Vermischung aus Erinnerung und Vorstellung wird fachsprachlich als Konfabulation bezeichnet. Doch das ist den Patienten nicht bewusst und sie berichten, sich ganz normal zu fühlen.


Roger Wolcott Sperry starb am 18. April 1994 in Kalifornien.


Übrigens:

Oft hört man, dass die rechte Seite besonders für Emotionen und Einfühlungsvermögen, die linke eher für logisches und analytisches Denken zuständig sei. Von dieser einfachen Aufteilung nimmt man heute Abstand.


Wenn dich Gehirn und Geist oder die Frage nach dem Ich interessieren, dann wirf doch auch mal einen Blick in unseren WAS IST WAS-Band 108: Das Gehirn


Text: -jj- 20.8.2008//Bilder: Sehnervenzeichnung: WIW-Band 108: Das Gehirn; Hirnschnitt: John A Beal, PhD Dep't. of Cellular Biology & Anatomy, Louisiana State University Health Sciences Center Shreveport cc-by-sa-2.5; Sperry © The Nobel Foundation/ http://www.nobelprize.org; Gesichtsnerv: Patrick J. Lynch, cc-by-sa 2.5; Broca-Areal PD


Hinweis: Im Archiv wurden alle Bilder und Links entfernt