Wie die Sinne im Dunkeln geschärft werden

Stellt euch vor, ihr steht in einem Raum eines Restaurants und es ist stockfinster. Ihr seht nichts. Keinen Umriss, keinen Schatten, einfach nichts. Ihr kennt den Raum nicht, seht den Tisch, die Stühle, die Teller und das Besteck nicht. Und nun werdet ihr zu Tisch gebeten und bekommt ein vier Gänge Menü - aber ihr wisst nicht, was auf eure Teller kommt. Spannend, oder? Wir haben so ein Dunkelessen für euch ausprobiert und können es euch nur empfehlen, denn es schärft die Sinne und die Augen haben Pause!

Die Bedienung führt mich zu meinem Platz, denn ich sehe nix. Tastend setze ich mich auf einen Korbstuhl an einem Tisch. Während alle Gäste nichts sehen, tragen die Bedienungen spezielle Nachtsichtgeräte, die man wie eine Skibrille aufsetzen kann. Sie bringen Licht ins Dunkel.

Nachtsichtgeräte

Diese Nachtsichtgeräte nutzen für das Auge unsichtbares Infrarot-Licht (einer IR-Lampe) und verwandeln es von Photonen in Elektronen. Diese elektrische Energie lässt sich dann verstärken und abschließend in ein Bild umkehren. Allerdings haben die verwendeten Nachtsichtgeräte nur ein eingeschränktes Gesichtsfeld.

Das heißt, die Bedienungen müssen ganz vorsichtig sein, damit sie niemanden anstoßen. Außerdem sieht man keine Farben, sondern nur grau - schwarz Schattierungen. So hat Weißwein die selbe Farbe wie Rotwein, nämlich grau. Keine leichte Aufgabe also für die Kellner!

Ordnung muss sein!

Kaum sitze ich an meinem Platz, versuche ich mich erst mal zu orientieren. Aha, rechts von mir sitzt ein männlicher Gast, das erkenne ich an der Stimme. Links sitzt niemand, da ist der Tisch zu Ende. Ich ertaste vorsichtig meinen Platz. In der Mitte, die gefaltete Serviette - die kommt auf meinen Schoß, wer weiß, was dort noch alles landet. Links und rechts liegen Messer und Gabeln. Wie war das mit dem Besteck? "Immer von außen nach innen". Gut, dass es Regeln gibt. Dann stehen Gläser unterschiedlicher Form und plötzlich höre ich auch, wie in ein Glas eine sprudelnde Flüssigkeit eingegossen wird - Wasser.

Hören, fühlen, tasten

So nach und nach ertastet man sich sein Umfeld und horcht, von wo, welche Stimme kommt. Mir gegenüber eine jüngere Frau, dann noch eine, dann ein Herr. Ganz wichtig ist plötzlich, dass man wirklich alles wieder "an seinen Platz stellt" - sonst ist es für den Rest des Abends verloren. Man findet es kaum mehr oder eben immer am falschen Platz, so wie die Butter. In die tapse ich immerhin acht Mal bei diesem Essen, denn mein Tischnachbar stellt sie immer wieder an einer anderen Stelle ab.

Der Trick mit der Uhrzeit

Damit wir mit unseren Gläsern anstoßen können, bedienen wir uns eines Tricks. "Ich komme mit meinem Glas auf halb zwölf. Die Uhr "vor Augen" strecke ich mein Glas vorsichtig gegen "halb zwölf - getroffen! Die Gläser klingen und wir sind glücklich, dass wir nicht nur den Kerzenständer erwischt haben.

Die Augen aufreißen

Obwohl ich weiß, dass ich nichts sehen kann, dass es einfach nur dunkel ist, will mein Auge die Finsternis überlisten. So reiße ich meine Augen auf um den Hauch eines Schattens zu erkennen. Vergebens. Das ist anstrengend, also mache ich die Augen zu und erst nach einiger Zeit, gewöhne ich mich an den Gedanken nichts sehen zu können und kann entspannen. Gut, denn nun kommt das Essen.

Verschiedene Taktiken

Es gibt verschiedene Arten sich dem Unbekannten auf dem Teller zu nähern: Einige am Tisch haben Angst etwas in den Mund zu stecken, was sie nicht gesehen haben. Also fühlen sie vor und fingern auf dem Teller herum. Aha, Fleisch. Salat, Soße - gut, dass wir eine Serviette haben. Andere versuchen mit dem Messer und der Gabel erst einmal festzustellen, wie voll der Teller ist, wo was liegt, wie es duftet. Die Gerüche werden plötzlich wichtig. Einiges erkennt man schon am Duft: Kräuter, Zwiebeln, Entenbrust.

Nix, Happen oder Broken?

Vorsichtig beginne ich zu schneiden. Steckt meine Gabel fest? Habe ich ein kleines Stück oder ein großes abgeschnitten? Langsam führe ich die Gabel zum Mund - Fehlanzeige. Es ist überhaupt nichts drauf. Ich hätte schwören können, da war was. Nächster Versuch. Ein kleiner Schnitt. Das dürfte ein kleiner Bissen sein. Von wegen! Ein großes Stück Fleisch baumelt vor meinem Mund. Gut, dass mich niemand sieht!

Die Vielfalt der Zutaten

Doch sobald Fleisch, Nudeln, Salat, Lauchzwiebeln, Lorbeer oder Tomaten, Thunfisch oder auch die Mangosoße in den Mund kommen, schmeckt alles viel intensiver. Es ist wie eine Geschmacksexplosion. Plötzlich schmeckt man nicht mehr nur das Ganze, sondern macht einzelne Kräuter und Zutaten aus. Bohnenkraut? Estragon! Knoblauch?

Das Essen wird König

Wer sonst dem Essen keine Beachtung schenkt, der hat im Dunkeln keine Chance! Plötzlich unterhalten sich alle darüber, was sie auf ihrem Teller erahnen oder auch schmecken. So mancher, der beim Anblick von Karotten keinen Appetit mehr hat, der findet Mohrrüben nun lecker. Wer keinen Fisch mag, der schlemmt Thunfisch und findet ihn ganz vorzüglich. Hat man keine optischen Vorgaben mehr, zählt allein der Geschmack und das Gefühl im Mund. Jede Zutat wird intensiver und jeder Bissen ist eine neue Überraschung.

Nach jedem Gang erzählen die Gäste, was sie herausgeschmeckt haben - und der Koch erklärt, was wir tatsächlich auf dem Teller hatten - und schon ist die nächste Überraschung garantiert!

Am Ende des Essens wird nur eine Kerze angemacht - und jeder ist geblendet. Ich erlebe die nächste Überraschung, denn den Raum habe ich mir ganz anders vorgestellt. Außerdem hätte ich schwören können, ich sitze an einer geschwungenen Tafel, dabei sind die Tische kerzengerade........

Wer dieses Experiment nicht im Restaurant wagen will, der kann ja mal zu Hause versuchen mit geschlossenen oder verbundenen Augen zu essen. Das schult die anderen Sinne - und das Vertrauen!

-ab-01.09.04 Text / Fotos: Thomas Tjiang.

P.S.: Wie es zum Dunkelessen kam....

Das Dunkelessen ist eine spannende Erfahrung, geeignet um die Sinne zu schärfen. Immer mehr Restaurants in Deutschland bieten das Schlemmen im Dunkeln an. In Nürnberg kann man sich noch bis 09. Oktober im Restaurant von Christian Wonka auf die kulinarische Entdeckungsreise begeben. Ein Teil des Menü-Preises geht als Spende an die Blindeninstitutionsstiftung in Rückersdorf. Angeregt hat dieses "Essen im Dunkeln" die Norisbank, die mit dieser Aktion auch auf die Arbeit der Blindeninstitutionsstiftung, in der mehrfachbehinderte Kinder leben, aufmerksam machen möchte.

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