"Nathan der Weise" - für Toleranz und Humanität

Lessings Nathan der Weise ist das bekannteste Drama aus der Epoche der Aufklärung. Das Stück macht sich für Toleranz und Menschlichkeit stark und tritt mit seinem Herzstück, der Ringparabel, für eine Versöhnung der Religionen untereinander ein. Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den großen Religionen zeigen, wie aktuell dieses Thema auch 220 Jahre nach der Uraufführung des "Nathan" ist.


Mit dem positiven, fast märchenhaften Ausgang seines Alterswerks entwirft der Dichter den Idealzustand der Gesellschaft im Sinne der Aufklärung eine harmonische Welt, frei von Hass und Vorurteilen. Ganz bewusst rückte Lessing die Handlung in räumliche und zeitliche Ferne. Ort und Zeit der Handlung ist das mittelalterliche Jerusalem, zur Zeit des Waffenstillstands nach dem 3. Kreuzzug. Das Ende zeigt Christen, Juden und Mohammedaner versöhnt, nachdem sie ihre gegenseitigen Verwandtschaftsbeziehungen entdeckt haben.

Die Handlung

Die Handlung in Kürze: Nathan, ein jüdischer Kaufmann, erfährt bei der Rückkehr von einer Handelsreise, dass es in seinem Haus gebrannt hat. Seine Tochter Recha hat das Unglück wie durch ein Wunder überlebt. Ein Tempelritter so nannte man damals Soldaten, die Jerusalem für die Christen zurückerobern sollten rettete das Mädchen aus den Flammen. Von ihm wird erzählt, dass ihn Sultan Saladin, der Herrscher von Jerusalem, nur deshalb am Leben ließ, weil er seinem verschollenen Bruder so ähnlich sehe.

Vorurteile auf allen Seiten

Als Nathan den Retter persönlich kennen lernen möchte, verhält sich dieser schroff abweisend. Als Tempelherr lehnt er es ab mit Juden zu verkehren. Doch allmählich gelingt es Nathan sein Gegenüber für seine tolerante Haltung einzunehmen. Sultan Saldin träumt währenddessen davon, seine Schwester mit dem englischen König Richard Löwenherz zu verheiraten, um endlich Frieden zwischen Christen und Muslimen zu stiften. Doch was tun wenn die eigenen Kassen nach dem Krieg leer sind?

Der Sultan lässt Nathan in den Palast rufen, um den reichen Kaufmann zu überlisten und damit seine eigenen finanziellen Probleme zu lösen. Saladin will dem Juden eine Falle stellen, indem er ihn fragt, welche der drei Religionen die Beste sei. Die Antwort Nathans, nämlich die Ringparabel, ist der gedankliche Mittelpunkt des Stücks. Lessing hat diesen Teil nicht selbst erfunden, sondern von dem berühmten Renaissance-Dichter Boccaccio übernommen.

Die Ringparabel

Die Geschichte handelt von einer Familie, in der es Tradition ist, einen der Söhne durch die Weitergabe eines kostbaren Rings zum Haupterben zu machen. Weil der Vater keinen seiner drei rechtschaffenen Nachkommen enttäuschen möchte, lässt er zwei Duplikate von dem Schmuckstück anfertigen, die er selbst nicht vom Original unterscheiden kann.

Als es nach seinem Tod unter den Brüdern zum Streit kommt, weigert sich der Richter ein Urteil zu sprechen und rät jedem der Männer an die Echtheit seines Rings zu glauben. Lessings Botschaft: So wie die drei Ringe, so kann auch jede der drei Religionen die echte sein. Jedenfalls sollten ihre Anhänger davon ausgehen und es durch Sittlichkeit und Nächstenliebe zu beweisen versuchen.

Saladin reagiert betroffen und bietet dem Juden seine Freundschaft an. Er hat in der Parabel erkannt, dass religiöse Toleranz die Voraussetzung für eine humane Gesellschaftsordnung ist.

Drei Religionen, eine Familie

In der Zwischenzeit hat der Tempelherr von einer Dienerin Nathans erfahren, dass Recha getaufte Christin ist und von dem Juden als Adoptivtochter aufgezogen wurde. In den Augen des Tempelherrn eine Todsünde! Die Hintergründe kennt er jedoch nicht. Nathan hatte Frau und sieben Söhne durch einen Brandanschlag verloren, der von Christen verübt worden war. Gerade in dieser Situation Verantwortung für ein Christenmädchen zu übernehmen, hatte er damals als göttliche Prüfung für Toleranz und Humanität verstanden.

Aufgrund der Nachforschungen Nathans und Saladins können am Ende auch die Verwandtschaftsverhältnisse der Hauptfiguren aufgeklärt werden. Recha und der Tempelherr sind Geschwister. Nach dem Tod der Mutter wurden sie vom Vater in Adoptivfamilien gegeben Recha zu Nathan, ihr Bruder zu einem Verwandten, der sich als der Bruder der verstorbenen Mutter – Curd von Stauffen – herausstellt. Ein christlicher Tempelherr und die Pflegetochter eines Juden also in Wahrheit Neffe und Nichte eines muslimischen Herrschers. Obwohl sie drei verschiedenen Religionen angehören, sind sie Mitglieder ein und derselben Familie.

Der "Goeze-Streit" als Hintergrund

Lessing schrieb Nathan, der Weise in einer Phase seines Lebens, als er die Intoleranz der Kirche am eigenen Leibe erfahren musste. Er hatte als Bibliothekar bibelkritische Schriften veröffentlicht und handelte sich daraufhin besonders die Kritik des Hamburger Hauptpastors Goeze ein. Der ausgedehnte Federkrieg sollte als Goeze-Streit in die Literaturgeschichte eingehen. Lessing vertrat dabei die Meinung der Aufklärung, dass sich selbst die Religion den Kriterien der Vernunft zu unterwerfen habe.

Noch heute aktuell

Die Uraufführung seines Toleranzdramas erlebte Lessing nicht mehr. Er starb zwei Jahre bevor das Stück am 14. April 1783 das erste Mal über die Bühne ging. Doch erst in der Bearbeitung Friedrich Schillers 1801 wurde Nathan der Weise richtig populär. Seitdem gehört das Stück zum festen Repertoire deutscher Theater. Es lässt auch heute noch viel Raum für aktuelle Interpretationen.

Nic 08.04.2003 / Cover Nathan der Weise, Reihe Weltliteratur für Kinder: Mit freundlicher Genehmigung des Kindermann Verlags Berlin. Portät Lessing: Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main.

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