Emilia Galotti: Lessings tugendhafteste Heldin

Das bürgerliche Trauerspiel ist unweigerlich mit dem Dramentitel Emilia Galotti verbunden. 1772 lieferte Gotthold Ephraim Lessing seinen letzten Beitrag zu einer Gattung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutschen Theaterbühnen dominierte. Die meisten Stücke kennen wir heute gar nicht mehr. Doch Emilia, die am 13. März in Braunschweig uraufgeführt wurde, hat bis heute überdauert.

Lessing hatte bereits 1755 mit Miß Sara Sampson das erste bürgerliche Trauerspiel der deutschen Literatur geschrieben. Er reagierte damit auf den allgemeinen Zeitgeschmack und holte sich Anregungen bei englischen Autoren, die in diesem Literaturzweig federführend waren. Ihren rührseligen Romanen und Theaterstücken lag immer wieder das gleiche Grundmuster zugrunde, das vielfach variiert und abgewandelt werden konnte.

Verbotene Liebe

Meistens drehte sich die Handlung um eine junge bürgerliche Frau, die eine Verbindung mit einem unstandesgemäßen Mann eingeht. Der Konflikt kommt dadurch zustande, dass die Liaison gegen den Willen der Eltern geknüpft wird. Vor allem der strenge Vater spielt dabei eine entscheidende Rolle. Oft sehen sich die Liebenden zur Flucht gezwungen. Ihr tragisches Schicksal kann dadurch aber nur hinausgezögert werden. Fast immer findet mindestens einer der jungen Hauptdarsteller am Ende den Tod.

Hüterin der Tugend

So auch in Emilia Galotti. Darin bittet die Heldin ihren Vater am Ende des Stücks, sie umzubringen. Sie möchte ihre Unschuld retten, weil sie glaubt, ihrem adeligen Verführer, einem skrupellosen Prinzen, nicht länger widerstehen zu können. Dieser hatte sie entführen und ihren Bräutigam umbringen lassen. Die Tugend gilt Emilia jetzt als das letzte Gut, dass sie ihm verwehren kann. Der Vater vollstreckt ihren Willen und macht sich dadurch kaum weniger schuldig als der Prinz. Das Ende und die Zuweisung der Schuld ist in der Literaturgeschichte bis heute sehr kontrovers diskutiert worden.

Bürger auf der Bühne

Jetzt werden sich viele von euch sicherlich fragen, was eigentlich so neu und aufsehenerregend an bürgerlichen Trauerspielen ist. Dazu müsst ihr wissen, dass es damals revolutionär war, nicht-höfische Personen als Handlungsträger auf die Bühne zu stellen. Das war bis dahin nur in Komödien möglich gewesen, wo Bürgerlichen vor allem der komische Part des Verlachten zufiel. Die ernste Tragödie hingegen stellte bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur Adelige ins Zentrum des Geschehens.

Könige fallen tiefer

Man leitete diesen Grundsatz von dem griechischen Theatertheoretiker Aristoteles ab. Seine Poetik war bis Mitte des 18. Jahrhunderts als unumstößliches Regelwerk ausgelegt worden. Gewissermaßen eine Gebrauchsanleitung, wie man Dramen schreibt. Als mustergültig in seinem Sinne galten die französischen Dramendichter Corneille und Racine. Sie setzten auch den Grundsatz von der so genannten Fallhöhe vorbildhaft um, von dem bei Aristoteles die Rede ist. Darunter versteht man, dass nur Personen hohen Standes (z.B. Könige und Fürsten) in der Lage sind, tief zu fallen und das Publikum durch ihr schreckliches Schicksal entsprechend zu rühren.

Identifikation ist gefragt

Das sah Lessing anders. Seiner Meinung konnten auch das Leiden niedrig stehender Personen tiefe Gefühle beim Zuschauer auslösen. Gerade bürgerliche Theaterzuschauer könnten sich mit ihresgleichen auf der Bühne viel besser identifizieren. Diese veränderte Auffassung hing vor allem mit der neuen Rolle des Theaters innerhalb der Gesellschaft zusammen. Bis Ende des 17. Jahrhunderts war die Bühne keine öffentliche Vergnügungsanstalt, sondern dem Adel als Privileg vorbehalten. Das einfache Volk dagegen amüsierten sich auf den Marktplätzen, wo umherziehende Wandertruppen ihre zotigen Stücke aufführten.

Theater für das Volk

Erst im 18. Jahrhundert wurden die ersten Theater eröffnet, zu denen auch Bürgerliche Zutritt hatten. Nun gab es zwar Theater für das Volk, aber keine Dramen, die ihre Probleme thematisierten. Lessing strebte deshalb eine umfassende Theaterreform an. Vor allem die Wirkungsweise der Stücke lag ihm am Herzen. Er wollte nicht mehr wie Theoretiker vor ihm - dass die Zuschauer durch das Handeln der Hauptfiguren auf der Bühne abgeschreckt und dadurch zu einem sittlichen Lebenswandel angehalten wurden. Mit Lessings Helden sollten die Zuschauer mitfühlen und Mitleid haben. In diesem Sinne schrieb Lessing Emilia Galotti.

Auch nach Lessing lebte das bürgerliche Trauerspiels fort. Später entwickelte sich daraus die Gattung des so genannten sozialen Dramas, in dem die schichtenspezifischen Probleme der Menschen zum tragischen Ausgang führen.

Nic - 13.03.2002 / Foto:Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main.

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